Mittwoch, 11. Dezember 2013

Zum 10. Teves

Von Rabbiner SAMSON RAPHAEL HIRSCH sel.A.

Im Kerker saß der Prophet. Draußen vor den Toren der Stadt wimmelte die babylonische Heeresmacht. Die Belagerung hatte begonnen, welcher Jerusalem nach dritthalbjährigem Widerstande erliegen sollte.

Im Kerker saß der Prophet. Der eigene jüdische König und die jüdischen Großen hatten ihn in den Kerker geworfen, weil er die Eroberung der Stadt und die Gefangennehmung des Königs, weil er das ganze Vergebliche des Widerstandes gegen die Chaldäermacht im Namen Gottes verkündet, ja die Erhaltung der Stadt um den Preis der freiwilligen Übergabe an die von Gott gesendete Chaldäermacht im Namen Gottes verheißen.


Und nun saß er im Kerker und draußen vollzog sich das Verhängnis, das er seit Jahren voraus verkündet, das ihn Gott bereits im Geiste mit allem Jammer und allem Elend im Gefolge hatte durchleben lassen, ihn, "den Mann, der das Elend gesehen" unter dem "Stabe seines Zornes, den er längst voraus geführt in die Finsternis hinein, wohin kein Lichtstrahl dringt" - ja, der schon im voraus diesem Jammer die Träne des Schmerzes geweint und das Wort der Klage geliehen. - Die klagenden Lieder hatte man ins Feuer geworfen, den klagenden, warnenden Propheten in den Kerker gewiesen, und während er seine, die Fassung und den Mut brechende Gottesbotschaft im Gefängnis büßte, nahte das Verhängnis draußen und machte seine Warnung zur Wahrheit und gestaltete den Text zu seinen Klagen.

Da ward im Kerker das Wort Gottes an ihn: es komme sein Vetter mit der Aufforderung zu ihm, ein Feld, das er in ihrem Geburtsort besaß und zu veräußern gezwungen sei, nach dem göttlichen Güterrechte als Verwandter zu kaufen. Und während draußen das jüdische Land mit Staat und Nation in Trümmer ging, mußte der Prophet im Kerker, der diesen Untergang zu schauen und zu verkünden gehabt, einen Acker dieses Landes nach allen für den ruhigsten Besitz friedlicher Zeiten berechneten Gesetzen und unter allen umständlichsten Formen, vor Zeugen und den im Kerkerhof anwesenden Genossen, kaufen und die Urkunden in ein irdenes Gefäß bewahren lassen, "damit sie sich lange Jahre erhalten"; "denn so hatte ,ד' צבאו, der Gott Israels gesprochen: noch werden Häuser gekauft werden und Feldbau und Weinberge in diesem Lande!"

Der Prophet vollzog's wie ihm geheißen. Sobald er es aber vollzogen und die Kaufsurkunde zur Verwahrung ausgehändigt hatte, rang sein staunender Geist um "Klarheit" im Gebete zu Gott.

So lange Staat und König zukunftsicher träumten, ward sein Blick auf trostloseste Hoffnungslosigkeit gebannt; und nun wo alles wirklich in zukunftslose Trümmer zusammenbricht, soll ihm eben die Hoffnung auf neue Zukunft beginnen?!

Nicht an Gottes Allmacht zweifelte der Prophet. Er wußte, der "die Himmel und die Erde geschaffen", dessen Wundermacht ist nichts zu hoch. Eines Winkes bedürfte es und die Chaldäermacht liegt, wie einst Sanheribs Heer, als Leiche zu Boden.

Allein er wußte auch, daß Gott so gerecht als liebeerfüllt, wußte, daß seine Augen "geöffnet sind über die Wege der Menschen, jeglichem nach seinem Wandel und nach der Frucht seiner Handlungen zu geben", wußte, daß auch die über Jerusalem hereinbrechende Katastrophe nicht ein pragmatisches Ergebnis äußerer, politischer und geschichtlicher Zeitkonstellationen, wußte, daß sie von Gott herbeigeführte Vergeltung des von Juda geübten Abfalls von Gott und seinem Gesetze, und die Chaldäermacht vor Jerusalems Toren nur das Werkzeug der göttlichen Gerechtigkeit sei. Es war ihm in dem Augenblicke gegenwärtig alles, was Gott von den Tagen Egyptens her in Israel und damit gleichzeitig in der Menschheit getan, um sich das weltgeschichtliche Denkmal seiner Anerkennung im Menschenkreise zu stiften, er wußte, durch welchen Ungehorsam und welche Pflichtvergessenheit Israel sich des verliehenen Staatenglücks völlig unwürdig, ja völlig unfähig gezeigt und daß deshalb Gott diesen ganzen vernichtenden Untergang über Israel verhängt und herbeigeführt. Und nun - wo dieses Verhängnis im Vollzug begriffen ist, die Belagerung schreitet fort, die Stadt fällt, von Schwert, Hunger und Pest überwältigt, in die Hände der Chaldäer, es ist schon alles da, was Gott durch Jirmijas Mund verkündet, Gott läßt's geschehen - und spricht doch zum Propheten: Kaufe dir das Feld für Geld und lasse es durch Zeugen bekräftigen - und die Stadt fällt in die Hand der Chaldäer!!

Der Prophet zweifelt nicht an Gottes Allmacht, aber er zweifelt an Israels Umkehr. Gesetzestreu und gottgehorsam müßte Israel werden, müßte werden woran seit Jahrhunderten vergebens alle Propheten gemahnt, müßte die Treue und den Gehorsam gegen Gottes Gesetz - diese erste und einzige Bedingung einer glücklichen Selbständigkeit für Israel - erfüllen, und woher, woher - nach aller Erfahrung der Vergangenheit - diese Umwandlung zu erwarten?...

Von früh an hatte Israel seine Stellung und Beziehung zu Gott noch nie rein erkannt, hatte noch nie eine Zeit, in welcher es seine Aufgabe voll und ungetrübt begriffen und ergriffen hätte. Diese Stufe geistiger und sittlicher Vollendung liegt vielmehr für Israel nicht am Anfange, sondern am Ziele seiner geschichtlichen Entwicklung. Seine ganze Geschichte soll es erst erziehen für sein Gesetz...

Aber im Galuth, aber, weithin über die ganze Erde für Jahrhunderte und Jahrtausende in die Mitte der Völker gestreut, die verschiedensten völkergeschichtlichen Ereignisse, Revolutionen und Evolutionen, Gestaltungen und Zertrennungen mit durchmachend, lernt es die menschengeschichtlichen Versuche ohne "Gott", unter Baal und Moloch, in Natur- und Schicksalsdienst sich dauernd und glücklich zu begründen, in allen möglichen Formen, im mannigfaltigsten Wechsel von Aug' zu Aug' kennen, und was es da in tätiger und leidender Teilnahme Jahrhunderte hindurch lernt, was Gott es da in dieser ganzen tränenreichen Galuthschule erfahren läßt und kennen lehrt, davon dürfte wohl gesagt sein: "ich gebe ihnen ein Herz und einen Weg, mich zu ehrfürchten, daß ich nie mehr aufhören werde sie zu begleiten ihnen Heil zu spenden, und meine Ehrfurcht gebe ich so in ihr Herz, daß sie nimmermehr von mir weichen;" das dürfte sie endlich gründlich von jeder Baals- und Molochs-Vergötterung heilen, und sie fortan nur "einen Sinn und einen Weg" ergreifen lassen: in der ausschließlichen Verehrung des Einen Einzigen für sich und ihre Kinder auf immer alles Heil und allen Frieden zu erwarten."


Gesammelte Schriften Band III, Frankfurt a. Main, 1906

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen