Der Sozialismus. Seine Theorie und Praxis nach Bibel und Talmud

Von Rabbiner HEINRICH GALANDAUER sel. A.

Wenn die Menschen sich mit einem naturgemäßen Leben begnügen könnten und nur das erstreben würden, was ihre Natur notwendig erfordert, so gäbe es keine soziale Frage. Gott läßt die Natur mit ihren Erzeugnissen für die Erhaltung der Geschöpfe, die sie hervorbringt, sorgen, und Gott, der das Leben spendet, gibt auch die nötige Nahrung dazu. Weil sie aber die Begierde treibt, nach vermeintlichen Glücksgütern zu jagen und maßlos nach den Mitteln zu haschen, welche ihnen Macht, Ansehen, Bequemlichkeit und Vergnügungen schaffen können, so ist eine soziale Gleichheit nicht denkbar, und die Unterschiede in der Gesellschaft treten hervor, sobald es Einzelnen gelingt, dieser Mittel habhaft zu werden. Denn da die Erreichung solcher Mittel, entweder von dem Fleiß, oder von der Fähigkeit oder von dem Glücke des nach ihnen Strebenden abhängig ist, die Menschen aber in alldem sehr verschieden voneinander sind, so muß auch notwendig eine Verschiedenheit in der sozialen Stellung derselben eintreten. Diese Verschiedenheit, welche mehr oder minder zum Vorteil des Einzelnen und in vielen Fällen zum Nachteil der Andern besteht, bekämpft der Sozialismus.

Der Sozialismus ist die Lehre von der Gleichheit aller Menschen; er verlangt gleiche Pflichten und gleiche Rechte für Alle, gleichen Anteil an den Gütern dieser Welt, gleiches Ansehen und gleiche Macht für Alle. Da dies alles aber nur dann erst möglich wäre, wenn auch die Bedingungen, durch welche eine solche Gleichheit zu erlangen ist, in gleichem Maße bei Allen vorhanden wären und Alle gleich im Fleiße, gleich in Fähigkeit und Glück sein müßten, was aber nicht denkbar ist, so ergibt sich, daß der Sozialismus in diesem Sinne eine Unmöglichkeit ist. Es ist nur dann möglich und auch berechtigt, wenn er für Alle ein gleiches Recht auf die Existenz und deren Erhaltung fordert, d. h., wenn er an den Erträgnissen der Natur und an dem Besitztum der Menschen einen Anteil beansprucht, welcher Allen die naturgemäße Erhaltung ermöglicht; sobald der Sozialismus aber in Neid und Mißgunst umschlägt und es ihm nicht ausschließlich darum zu tun ist, daß der Arme gesättigt und bekleidet werde, sondern mit Scheelsucht auf die Reichen blickt und immer und immer wieder die Frage aufwirft, warum der Eine Millionär ist, während der Andere um sein tägliches Brot schwer arbeiten muß; sobald in solcher Weise das Recht des Besitzenden an dem Besitz bestritten wird, verliert der Sozialismus jede Berechtigung, denn das Recht schließt den Sozialismus gänzlich aus. Das Recht sichert und schützt das Eigentum; dieser aber will zwischen Mein und Dein nicht unterschieden wissen und er verlangt nicht das Recht, sondern die Gewalt. Was wäre denn der Sozialismus sonst als die Gewalt, wenn, wie wir oben gezeigt haben, ein gleicher Anteil an Allem für Alle darum unmöglich ist, weil Alle verschieden voneinander in Geist, Fleiß und Glück sind? Ist er aber das Recht, daß Alles Allen angehört, dann beruht er nicht mehr auf dem Vernunftrecht, sondern auf dem rohen Naturrecht, welches der Starke über den Schwachen besitzt, worin der Mensch dem Tiere gleichgestellt ist. Es kann daher hier nur von einem Vernunftrecht die Rede sein, ohne welches es keine soziale Vereinigung gibt. Dieses Recht ist die gemeinsame Autorität, welche der Person und dem Eigentum eines jeden Einzelnen Schutz und Sicherheit gewährt; es sichert den Frieden, die Ordnung und den Verkehr in der Gesellschaft und im Staate. Das Recht ist ein gegenseitiger Vertrag des Einzelnen mit der Gesamtheit und umgekehrt, Kraft dessen es Jedem möglich ist, zu existieren, sich zu erhalten und sich zu schützen gegen Gewalttätigkeit und Unrecht. Sein Hauptgrundsatz ist der des Talmud, welcher lautet: "Was du nicht willst, daß man dir tue, das tue auch deinem Nächsten nicht." Weil du nicht willst, daß dir dein Recht vorenthalten werde, darum gebe auch jedem Andern sein Recht, oder, übe mit Andern Gerechtigkeit, wenn du willst, daß dir von Andern dein Recht werde. Daraus folgt, daß wir nur dann auf das Letztere einen Anspruch haben, wenn wir die Erstere üben; ist dies nicht der Fall, dann kann auch der Anspruch auf das Recht bestritten werden. Das Recht aber hat, wie oben nachgewiesen wurde, eine zweifache Bestimmung: In erster Reihe ist seine Aufgabe, die Existenz und die Erhaltung eines jeden Einzelnen in der Gesellschaft zu sichern, in zweiter Reihe erst hat es den Zweck das Eigentum und den Besitz vor Gewalt zu schützen. Nun verlangt das Recht des Besitzenden, daß man seinen Besitz nicht antaste; dieser aber kann nur dann den vollen Anspruch auf dieses Recht erlangen, wenn auch er den Besitzlosen gegenüber Gerechtigkeit übt, wenn er ihm ermöglicht zu existieren und sich zu erhalten. Wird aber von dem Besitzenden diese Gerechtigkeit nicht geübt und der Besitzlose wird aus unwiderstehlichem Erhaltungstrieb genötigt nach dem Brote oder nach dem Kleide oder nach dem andern Besitz des Besitzenden, welcher ihm diese Mittel beschaffen kann, gewaltsam zu greifen, so hat auch der Reiche nicht das Recht, sein Recht auf seinen Besitz geltend zu machen, und der Sozialismus, der Jedem das gleiche Recht auf seine Existenz und seine Erhaltung gibt, erhält seine volle Berechtigung; verlangt aber der Arme von dem Besitzenden mehr als diese Gleichheit und will gegen ihn Gewalt und Ungerechtigkeit üben, dann kann wieder der Sozialismus keinen Anspruch auf sein Recht der Gleichheit erheben, weil er aufgehört hat, an den Besitzenden Gerechtigkeit zu üben. Mit kurzen Worten: Der Antisozialismus ist das Recht, welches das Eigentum schützt und den Besitz sichert, der Sozialismus ist das Recht, welches die Existenz und den Bestand des Besitzlosen verbürgt. Die Achtung und Respektierung des einen Rechts wird von der des andern bedingt, da sie beide die Erhaltung der Gesellschaft als solche zum Zwecke haben.

Nachdem nun das Vernunftrecht zur Aufgabe hat, die Existenz Aller in der Gesellschaft zu sichern, haben auch Alle das Recht, die Mittel, welche zu ihrer Erhaltung nötig sind, von der Gesellschaft zu fordern und die Erhaltung des Armen von Seiten des Reichen ist ebenso ein Gebot des Rechtes, als es die Respektierung des Eigentums von Seiten des Armen ist. Darum ist es nicht bloß Mitleid allein, welches den Reichen verpflichtet, den Armen zu unterstützen, sondern es ist ein strenges Gebot des Rechtes, das er verpflichtet ist genau zu beobachten; macht er sich aber einer Übertretung dieses Gebotes schuldig, dann hat er den gegenseitigen Vertrag mit der Gesellschaft gebrochen und er muß sich darauf gefaßt machen, daß auch sein Recht auf sein Eigentum angefochten werden kann.

Aus diesem Grunde verlangt auch die Bibel nirgends, wo sie vorschreibt, den Armen zu unterstützen, daß wir dies aus Mitleid oder Barmherzigkeit tun sollen, sondern sie gebietet es uns als ein strenges Gesetz des Rechtes und der Gerechtigkeit; sie droht sogar, wenn du dem Armen und Hilflosen sein Recht versagst, daß Gott selbst ihm zu seinem Rechte verhelfen wird, wie aus Deuteronom. Kapitel 10, Vers 18, ersichtlich ist, wo es ausdrücklich heißt: "Er verschafft der Waise und der Witwe ihr Recht und liebt den Fremdling, ihm zu geben Brot und Gewand."

Die Bibel geht von dem Grundsatz aus, daß Alles, was lebt, ein Recht hat zu existieren und sich zu erhalten; das ist das höchste Recht der Natur. Dieses höchste Recht darf der Reiche dem Armen nicht vorenthalten; wird es vernachlässigt, so muß der Schöpfer für dasselbe in die Schranken treten, um seinen Geschöpfen, die Er in das Dasein gebracht hat, das Sein zu ermöglichen.

Daher wird auch die Erhaltung des Armen so streng gefordert und ihre Unterlassung für die schwerste aller Sünden in Bibel und Talmud betrachtet: "Wer es unterläßt, Mildtätigkeit zu üben, ist, wie wenn er den Einzigen Gott verleugnete und Götzendienst triebe" (Baba Bathra 10a). Die Ausübung der Mildtätigkeit aber wird als die höchste Tugend gepriesen, von der es heißt: "Wer Mildtätigkeit im Geheimen übt, steht höher als Moses, unser Lehrer" (ebenda 9b).

Darum sind auch alle Gebote, welche die Heilige Schrift über Mildtätigkeit vorschreibt, nicht als einfache Morallehren, sondern als strenge Gesetze zu betrachten. Strenge wird in erster Reihe gefordert, den Armen, die Witwe und die Waise nicht zu unterdrücken oder zu beleidigen. Wird dies nicht befolgt, wird sogar mit dem Tode gedroht (Exodus, Kap. 22:20-23). Ferner: Wenn du dem Armen Geld leihest auf ein Pfand, so sollst du ihm dasselbe, wenn es ein Kleid ist, am Abend wieder zurückgeben, damit er darauf ausruhen kann. Wird dies unterlassen, so erhöre Ich (Gott) sein Wehklagen, denn Ich (Gott) bin barmherzig (ebenda 24-26). "Beuge nicht das Recht des Armen" (ebenda Kap. 23:6). "Behalte nicht den Lohn des Taglöhners bei dir bis zum Morgen" (Leviticus, Kap. 19:13). "Wenn dein Bruder verarmt, so sollst du ihn aufnehmen bei dir, ihn unterstützen, daß er zu leben hat" (ebenda Kap. 25:35). "Jede drei Jahre sollst du aussondern alle Zehnten des Ertrages dieses Jahres und es soll kommen der Levite, der Fremdling, die Witwe und die Waise und essen und sich sättigen" (Deut. Kap. 14:28,29).

Ein Belijaal (Niederträchtiger) wird genannt, der dem Armen nicht gibt und selbst der Herr, der seinen Knecht entläßt, ist verpflichtet, denselben nicht leer wegzuschicken, sondern er muß ihm geben von seinen Schafen, von seiner Tenne und von seiner Kelter (Deuteron., Kap. 15:7-14).

Es würde soweit führen, wenn wir alle die unzähligen Stellen anführen wollten, in welchen die Bibel die Unterstützung der Armen gebietet, abgesehen von den Propheten, welche alle mit Feuereifer für die Erhaltung der Bedürftigen eintreten, was sie als die höchste Tugend verkündigen, welche Gott wohlgefälliger ist als alle Opfer, als die Übungen aller andern religiösen Satzungen und Vorschriften, wie aus Jesajas, Kap. 58, deutlich ersichtlich ist. Aus den angeführten Stellen ergibt sich, daß die Bibel die Erhaltung der Armen vom Standpunkte des Rechtes und nicht von dem des Mitleides allein aufgefaßt wissen will, und aus diesem Grunde stellt auch der Talmud "Gesetze der Mildtätigkeit" (Hilchot Zedoko) auf, welche nicht wie bei Morallehren allgemein gehalten sind, sondern mit der peinlichsten Genauigkeit und mit der rigorosesten Strenge alle möglichen Fälle, welche diesen Gegenstand berühren, behandelt, wie dies bei den Ehe- und Scheidungs-, oder bei den Speise- und Rechtsgesetzen der Fall ist. Ganz bedingungslos, ob man Mitleid mit dem Armen empfindet oder nicht, wird geboten, ihm Alles zu geben, was er bedarf, nicht nur an Speisen allein, sondern auch an den nötigen Hausgeräten (Ketuboth 67b).

Einem Verarmten, der einst bessere Tage gesehen, ist man nicht nur verpflichtet das zu verabreichen, was zu seiner Erhaltung unerläßlich notwendig ist, sondern man ist geboten ihn standesgemäß zu verpflegen, um ihn sein unglückliches Los so wenig als möglich fühlen zu lassen. Im oberen Galiläa, erzählt der Talmud, verpflichtete man sich, einem Armen aus guter Familie täglich ein Pfund Fleisch zu geben. Wenn der Arme zu anständig ist, um Unterstützung anzunehmen und das Schamgefühl jede Gabe zurückweist, so ist man verpflichtet, ihm soviel Geld leihweise zu geben, als er zu seiner Ernährung nötig hat (Baba Meziah 31b). Einem jeden Einzelnen wird nach dem Talmud eine Armensteuer auferlegt, welche nach dem Vermögen ermessen wird und auf welche das Gericht ein Pfändungsrecht und im Verweigerungsfalle das Exekutionsrecht hat (Baba Bathra 8b und Ketuboth 49b). Da die Mildtätigkeit auf dem Erhaltungsrecht Aller beruht, deshalb sind auch Alle, selbst der Ärmste, der seinen Lebensunterhalt durch die Unterstützung Anderer findet, geboten, Mildtätigkeit zu üben (Gittin 7b). Das Gesetz der Mildtätigkeit, wenn es im weitesten Sinn beobachtet sein will, verlangt bis zu dem fünften Teil des Einkommens (bei erstmaliger Besitznahme sogar des Vermögens) zur Erhaltung der Armen beizusteuern (Ketuboth 50b).

In diesem Sinne, und nur in diesem Sinne, wo es sich um das Existenz- und Erhaltungsrecht Aller handelt, ist der Sozialismus nicht nur zulässig, sondern auch ein strenges Gebot. Er hat die Aufgabe, die Gegensätze in der Gesellschaft soweit es sich mit dem Besitz- und Eigentumsrecht verträgt, nach Möglichkeit auszugleichen, was die Menschheit dem idealen Ziele, der vollkommenen Gleichheit näherbringt (Baba Bathra 10a) und die moralische und materielle Wohlfahrt des Staates hebt (Sprüche Salomos, Kap. 14:34).

Der Sozialismus in einem anderen Sinne, der den gleichen Besitzanteil für Alle fordert, dessen lüsternes Auge nach den Gütern der Reichen schielt, ist einfach mit dem Vernunftrecht nicht zu vereinbaren, denn er verstößt gegen die heiligsten Gebote derselben, gegen das Gebot: Du sollst nicht stehlen (Exodus 20:15), gegen das Gebot: Du sollst nicht rauben (Leviticus 19:13), gegen die Rechtsbegriffe zwischen Mein und Dein, gegen die Gesetze der Gerechtigkeit und endlich gegen den Ausspruch: Verflucht sei der, der die Grenzen des Nächsten verrückt (Deuteronom. 27:17).

Das Vernunftrecht verlangt die Armen zu erhalten, nicht aber sie alle gleich reich zu machen (Ketuboth 67b).

Die sozialistische Frage beschäftigte schon vor Jahrtausenden die hervorragendsten Denker und Staatsökonome. Schon Plato in seiner "Republik" entrollt uns ein erhebendes Bild von einem Staatswesen, worin die Bürger in drei feste Stände zerfallen, in den Lehr-, Wehr- und Nährstand; wo alle nur dem Staate dienen, die Individualität des Einzelnen soviel als möglich in den Hintergrund gedrängt wird, wo Alles Allen angehört und der Staat alle seine Güter nach den Bedürfnissen der Einzelnen verteilt. Die wahrhafte Vereinigung der menschlichen Gesellschaft soll unter dem Gesetze der Vernunft stattfinden, worin Tugend und Glückseligkeit in der vervollkommensten Harmonie herrschen.

Ohne Zweifel wäre ein solcher Staat von jedem Menschenfreunde wünschenswert, welcher mit Recht gleichsam ein Gottesstaat genannt werden könnte. Aber das Unglück ist, daß die Ideen, welche in der "Republik" herrschen, leider nicht realisierbar sind. Sie sind rein philosophisch konstruiert und zuweilen als ganz abstrakte Ideale hingestellte Sozialreformen, an deren Ausführbarkeit selbst die edelsten und hochherzigsten Herrscher nicht glauben. Schon Marc Aurel, einer der edelsten und gerechtesten Staatslenker aller Zeiten, sagt: "Hoffe nicht auf einen platonischen Staat, sondern sei froh und zufrieden, wenn es auch nur ein klein wenig vorwärts geht, und halte auch einen solchen kleinen Fortschritt nicht für unbedeutend. Denn wer kann die Grundsätze der Menschen ändern? Ohne eine Änderung der Grundsätze aber, was ist Anderes zu erwarten, als ein Knechtsdienst unter Seufzen, ein geheuchelter Gehorsam?" (Selbstbetrachtung Buch 9, Kap. 20).

Plato's "Republik" ist nach dem Gesagten nichts anderes als ein Idealstaat. Wie jedes Ideal aber, wenn es auch nicht erreicht werden kann, dennoch erstrebt werden soll, so ist auch der Gesetzgeber verpflichtet, in seinen Gesetzen das Heil und die Glückseligkeit aller Staatsangehörigen als Endziel im Auge zu haben, auch wenn dies zu erreichen unmöglich wäre.

Was hier von Plato's "Republik" gilt, das gilt auch vom Sozialismus.

Die vollkommene Gleichstellung aller Menschen als Prinzip, als Idee aufgefaßt, hat ihre vollkommene Berechtigung. Kein billigdenkender Mensch kann sich der Wahrheit verschließen, daß die Natur für alle Geschöpfe ihre Gaben spendet, und daß sie dabei nicht erst nach Art und Gattung, nach Stand und Fähigkeit frägt. Und was die Menschen im Besonderen betrifft, so verfährt sie mit allen in gleicher Weise; alle sind gleich in der Geburt, alle gleich im Tode, alle gleich dem Geschicke unterworfen. Das Letztere rollt wie ein Rad durch die Welt (Sabbat 151b), es bevorzugt keinen Stand, es achtet kein Ansehen trotz aller Scheidewände, welche die Menschen untereinander aufgerichtet haben. Mit welchem Rechte beansprucht der Eine in Überfluß zu leben, während der Andere darben muß? Mit welchem Rechte behält der Eine, was ihm unnötig ist, während es dem Andern am Nötigsten mangelt? Wir wollen nicht erst versuchen hier zu schildern, welches Unheil die sozialen Gegensätze für die Menschheit in sich bergen, oder wie die Welt von Glückseligkeit erfüllt wäre, wenn vollkommene Gleichheit in der Gesellschaft herrschen würde; keines von Beiden ist hier unsere Aufgabe. Wir wollen nur hervorgehoben wissen, daß die Natur jedem Einzelnen, ohne Unterschied, das Recht einräumt, sich ihrer Gaben zu erfreuen, ohne dem Einen mehr Rechte verliehen zu haben als dem Andern.

So richtig und wahr aber auch diese Gleichheitsidee sein mag, so bleibt sie dennoch nur eine Idee, welche uns wohl in unserem Denken und Fühlen leiten soll, deren Realisierung im Handeln in allen Konsequenzen auszuführen aber eine reine Utopie bleibt.

Gleich bei dem obersten Grundsatz in der mosaischen Religion, welchen auch das gesamte Christentum als ihr Grundprinzip akzeptiert: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (Leviticus 19:18), kann nicht bestritten werden, daß die konsequente Durchführung der Gleichheitsidee hier unmöglich gemeint sein kann.

Nehmen wir an, ich besitze tausend Taler. Es kommt Einer, und sagt: Die heilige Schrift gebietet: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst"; gib mir also die Hälfte deines Besitzes. Ich gebe ihm 500 Taler. Bald darauf kommt ein Anderer und sagt dasselbe und ich gebe ihm 250 Taler. Das Resultat wäre, daß der erste "Nächste" mehr besitzen würde als ich selbst, oder richtiger, daß mir schließlich gar nichts bliebe, wenn ich das Gebot der Nächstenliebe bis an das äußerste Endziel ausführen wollte. Daraus ergibt sich, daß die Lehre der Brüderlichkeit, der Nächstenliebe und der Gleichheit in ihrer vollkommenen Ausführung unmöglich und sogar schädlich wäre, weil durch die konsequente Selbstverleugnung und Selbstvergessenheit, die Selbsterhaltung des "Ich" in Frage gestellt würde, welche doch die Hauptbedingung der Existenz bildet.

Wenn jemals der Ausspruch des Talmud seine Gültigkeit hat, daß die Rechte immer das aufnehme, was die Linke verwirft (Sanhedrin 107b), so ist es in Bezug auf die Theorie und die Praxis des Sozialismus.

In der Theorie erweist sich die Gleichstellung aller Menschen als annähernswert. Sie beruht auf dem Mitgefühl, auf dem Mitleid, auf der Barmherzigkeit. In der Praxis hingegen ist sie einerseits undurchführbar, weil selbst, wenn man heute eine gleiche Verteilung aller Güter vornähme, morgen schon eine Verschiebung derselben erfolgen würde, durch Gewalt, durch Fähigkeit oder durch den Fleiß Einzelner; andererseits wieder ist sie verwerflich, weil die konsequente Durchführung derselben notwendig alles Streben und jede Fähigkeit lähmen müßte, welches wahrlich nicht zum Heile für die Menschheit wäre.

Im Nachstehenden soll nun nachgewiesen werden, daß in der Bibel und im Talmud der Sozialismus in der Theorie empfohlen, in der Praxis hingegen als unzulässig betrachtet wird. Ferner, daß die Bevorzugung einzelner Personen oder Klassen daselbst nicht allein auf der Geburt, oder auf der Macht oder auf dem Besitze beruht, sondern auf der Intelligenz.

Gleich beim ersten Menschenpaare verleiht die Bibel die Herrschaft dem Manne über dem Weibe, indem sie zu Eva spricht: Und er (Adam) soll über dich herrschen (Genesis 3:16). Wir sehen hier, daß eine vollkommene Gleichstellung nicht einmal bei einem einzelnen Menschenpaare möglich und daß eine Bevorzugung des Einen gegenüber dem Andern notwendig ist. Der Vorzug des Mannes aber beruht hier nicht auf seiner Stärke, sondern auf seiner Intelligenz, auf dem Verdienst in der Ausübung seiner Pflicht, welche ihm gebietet: "Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot genießen" (Genesis 3:19).

Beim ersten Brüderpaar Kajin und Abel, wo der Eine über dem Andern durch Gottgefälligkeit und Frömmigkeit hervorragt, zeigt es sich deutlich, wohin es führt, wenn die Bevorzugung der Intelligenz mit Neid und Mißgunst betrachtet wird. In der Erzählung vom babylonischen Turmbau hingegen erkennen wir die ersten Bestrebungen des Sozialismus. Die ganze Menschheit sollte ein Volk sein, einerlei Sprache hören, ein Staat für Alle, ein Streben für Alle; wozu Sonderinteressen, wozu Sonderbestrebungen? Wozu verschiedene Völker und Nationalitäten, welche durch ihre Herrschsucht nur Unglück und Elend über das Menschheitsgeschlecht bringen? Wäre es nicht heilbringender für die Welt, wenn nur ein Weltenreich existieren würde, welches die gesamte Menschheit umfaßte, wo die vollkommenste Gleichheit unter den Bürgern herrschte; Gleichheit an Macht, Gleichheit an Würde, Gleichheit an Besitz, Gleichheit in Pflicht und Recht? Welcher Jammer würde der Welt erspart bleiben, der durch grausame Kriege, durch Knechtschaft und Herrschaft hervorgerufen wird, wenn die ganze Menschheit durch die wahre Einheit und Gleichheit sich ruhig und sicher des Daseins erfreuen könnte! Das wäre wahrlich ein messianisches Reich, welches die Propheten in ihrer flammenden Begeisterung verkünden!

Hier sind wir wieder bei dem Punkte angelangt, den wir in den einleitenden Worten zu dieser Abhandlung berührt haben.

So verlockend uns hier der Sozialismus scheint, so unmöglich ist seine Durchführung. Die Herren Architekten beim babylonischen Turm scheinen die Sache sehr optimistisch aufgefaßt zu haben. Sie vergaßen gänzlich, daß zu einer Gleichheit, wie sie sie wollten, zuallererst eine Gleichheit in der Gesinnung, in der Denk- und Gefühlsweise nötig wäre, was aber ganz unmöglich ist.

Um die vollkommene Gleichheit herzustellen, müßten entweder alle Menschen gleich hoch in ihrer Fähigkeit sein, oder gleich niedrig in ihrer Unfähigkeit bleiben. Da aber das Erstere unmöglich, und das Letztere nur durch die äußerste Gewalt möglich wäre, so ergibt sich, daß die vollkommene Durchführung der Gleichheit der größte Fluch für die Menschheit wäre.

Ganz in diesem Sinne sind auch die Worte, mit welchen Gott dieses Vorhaben verurteilt: "Und haben sie das angefangen zu tun, dann bleibt ihnen nichts mehr übrig zu tun, was sie geplant haben" (Genesis 11:6). Wird einmal mit dem praktischen Sozialismus der Anfang gemacht, dann bleibt auch nichts anderes übrig als die vollkommene Durchführung desselben bis zum äußersten Endpunkte, welches den Ruin der Menschheit herbeiführen würde.

In der Geschichte von Jakob und Esau kommen die Vorrechte der Geburt zum erstenmale zur Erscheinung. Die Vorrechte des Erstgeborenen, welche von allen Völkern zu allen Zeiten anerkannt wurden, können, was man gegen dieselben auch einwenden möchte, nicht bestritten werden. Als der Erstgeborene das Licht der Welt erblickte, war er der alleinige Erbe des väterlichen Besitzes. Niemand war da, der ihn in seinem Rechte schmälern durfte. Nun folgt ihm ein Bruder ins Leben, welcher ein Anspruchsrecht erhält auf das väterliche Erbgut, wodurch der Erstgeborene in seinem Alleinbesitzungsrechte geschädigt wird. Ist es da nicht billig, daß der Erstgeborene für den nunmehrigen Verlust dieses Rechtes durch Vorrechte, die man ihm über seinen Bruder einräumt, gewissermaßen entschädigt wird?

In den Zeiten Jakob's und Esau's, waren, wie allgemein bekannt, die Vorrechte des Erstgeborenen sehr weitgehende. Er war als das Oberhaupt der Familie berechtigt, die Herrschaft und die unumschränkte Macht in derselben auszuüben. Dieses Recht sollte nun Esau nach dem Ableben seines Vaters erhalten. Aber selbst bei diesem Vorrechte des Einen über den Andern zeigt sich unsere obige Behauptung vollkommen gerechtfertigt, welche sagt, daß die Bevorzugung nur auf der Intelligenz des Bevorzugten, also auch nur auf der des Erstgeborenen berufen darf. Denn von Esau sagt der Talmud: "Esau war ein böser Mensch, der als Wegelagerer die Wanderer auf der Heerstraße überfiel und sie ausraubte" (Baba Bathra 121a). Jakob aber, der ein frommer Mann war (Genesis, Kap. 25, V. 27) wußte wohl, daß Esau seine Würde als Erstgeborener mißbrauchen würde, daher trachtete er diesen Vorzug auf friedlichem Wege zu erlangen. Er wußte, was Esau von den materiellen Gütern hielt; er hatte sich überzeugt, daß sie ihm mehr galten als die moralischen und er bietet ihm für sein Vorrecht ein Linsengericht. Esau willigt ein; der Pakt wird geschlossen, und der Würdigere gelangt in den Besitz der Würde.

So finden wir mehrere Stellen in der Bibel und im Talmud, aus welchen deutlich zu ersehen ist, daß selbst das legitime Vorrecht des Bevorzugten von der Intelligenz desselben bedingt wird. Von Ruben, dem Erstgeborenen Jakobs, heißt es, daß Joseph dessen Erstgeburtsrechte übernahm, weil jener nicht würdig genug gefunden wurde (Baba Bathra 121 a). Ferner wird verboten, einem rohen, unwissenden Priester die Hebe zu geben (Sanhedrin 90 b). Selbst der Hohepriester kann sich nur so lange seiner Vorrechte erfreuen, solange er den Bedingungen der Intelligenz entspricht; im andern Falle soll er zur Rechenschaft gezogen und gerichtet werden (Sanhedrin 18 b). Und endlich, wie Moses zu Vorgesetzten über das Volk nur wahrheitsliebende, tapfere, gottesfürchtige und uneingennützige Männer wählte (Exodus, Kap. 18, V. 21), so wird auch die Macht und die Herrschaft der Fürsten und Könige in der Bibel von deren Gottesfurcht und Gerechtigkeit bedingt.

Nachdem es uns als erwiesen erscheint, daß die Bibel und der Talmud die Vorrechte Einzelner in der Gesellschaft anerkennt und daß diese Vorrechte auf der Intelligenz des Bevorzugten beruhen müssen, wollen wir nun zu unserer eigentlichen Aufgabe schreiten und nachzuweisen suchen, wie der Sozialismus in der Praxis, in Bibel und Talmud als verworfen, in der Theorie hingegen als empfehlenswert erscheint, und gleich hier die Beweise von der Unzulässigkeit des praktischen Sozialismus folgen lassen:

Gegen den praktischen Sozialismus ist vorzüglich hervorzuheben das zehnte Gebot: "Du sollst nicht gelüsten nach Allem, was deinem Nächsten angehört". Fast unmittelbar darauf folgen die Rechtsgesetze, welche mit der strengsten Genauigkeit das Mein und Dein behandeln. In Exodus Kap. 23, V. 3 heißt es daselbst ausdrücklich: "Du sollst den Armen nicht bevorzugen in seiner Streitsache". Ferner: "Du sollst die Grenzen deines Nächsten nicht verrücken, welche die Alten begrenzt haben" (Deutronom. Kap. 19, V. 14).

Von Ruben erzählt die Heilige Schrift: Er ging aus zur Zeit der Ernte und fand Dudaim auf dem Felde, welche er seiner Mutter Leah heimbrachte. Er nahm nichts anderes als Dudaim, weil er nicht fremdes Eigentum berühren wollte (Genesis, Kap. 30, V. 14).


Dasselbe wird auch bei Moses hervorgehoben, als er die Herden Jithro's in die Wüste führte, um sie von fremdem Besitztum fernzuhalten (Exodus, Kap. 3, V. 1).

Von den Einwohnern Sodoms und Gomorahs sagt der Talmud, daß sie deshalb zu Grunde gingen, weil sie mit mißgünstigem Auge auf die Kapitalisten blickten (Sanhedrin 109 a).

In Aboth (Absch. 23, V. 17) wird strenge geboten: "Das Eigentum deines Nächsten sei dir so wertvoll, wie das deinige." In Traktat Sota 12 a heißt es: "Den Gerechten gilt ihr Vermögen mehr als ihr körperliches Wohl." Ferner wird hervorgehoben, wie nützlich der Reichtum des Einzelnen für die allgemeine Welt ist. So heißt es: "Rabbi Simon, Sohn des R. Jehuda, sagte im Namen des R. Simon, Sohn des Jochai: Der Reichtum ist nützlich für den Gerechten und nützlich für die Welt" (Aboth, 6, 8).

Nicht nur das Verlangen nach fremdem Besitz wird auf das strengste untersagt, selbst der Neid des Besitzlosen den Besitzenden gegenüber ist nicht gestattet. So lautet ein Ausspruch: "Der Neid führt zum sichern Verderben" (Aboth 4, 28).

Aus allen diesen Stellen ist deutlich zu ersehen, daß der praktische Sozialismus in Bibel und Talmud als unzulässig erscheint, ja selbst wo die Bibel denselben in einem Punkte zulassen möchte, nämlich im Schuldenerlaßgesetze im "Erlaßjahr", aus Rücksicht für den Armen, dem es bisher unmöglich war, seine Schuld zu bezahlen, selbst da mußte der Talmud dieses Gesetz beschränken, indem er aus Schutz vor Betrügern das "Prusbul" einführte (Schebiit 46a und Gittin 36a).

Es wäre überflüssig hier alle Fälle von Bevorzugten vorzuführen - welche vom menschlichen Standpunkte aus betrachtet Teilnahme der Gesamtheit nicht entbehren können. Es genügt hier der allgemein bekannte Ausspruch des Talmud: "Es stirbt kein Mensch, dem nur die Hälfte seiner Wünsche in Erfüllung gegangen wären", um darzutun, daß es keinen Menschen auf Erden gibt, der keine Wünsche hätte, dem das Leben so sanft nach seinem Belieben dahingleitet, dessen Glückeshimmel sich nie trübt und der vollkommen glücklich ist, um der Teilnahme Anderer ganz und für immer entbehren zu können.

In diesem Sinne und nur in diesem Sinne allein empfiehlt die Bibel und der Talmud den Sozialismus und darin finden auch unsere angeführten Beispiele von den einzelnen Bevorzugten ihre Anwendung. Du bist Herrscher und besitzest Macht, wisse aber auch, daß du dem Geschicke gegenüber ohnmächtig bist, folglich: Hilf dem Ohnmächtigen und Hilflosen. Du bist befähigt und mit Ruhm bedeckt; Gleichgültigkeit und Verachtung kann dein Los sein, folglich komme den Unbedeutenden freundlich entgegen und verachte keinen Menschen. Du bist mit Reichtümern gesegnet: Es kann dich Armut treffen, folglich unterstütze den Armen und Dürftigen. Überall wo das Mitgefühl in Betracht kommt, bedenke, daß weder Macht, noch Ruhm, noch Reichtümer dir gehören, daß alle Glücksgüter des Lebens nur von kurzer Dauer sind, und daß du sie nur besitzest, um sie zum Heil, zum Nutzen und Frommen der Menschheit zu verwenden.

So hat auch das Grundprinzip in der Bibel: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, seine volle Gültigkeit, weil es nicht auf der Gleichheit im Besitze beruht, was, wie oben nachgewiesen wurde, unausführbar sei, sondern weil es sich auf die Teilnahme und auf das Mitgefühl stützt, worauf Alle gleichen Anteil haben und wonach dieses Gebot folgendermaßen ausgelegt werden muß: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, weil du selbst der Liebe bedarfst; gehe schonungsvoll mit ihm um, weil du selbst Schonung forderst, sei barmherzig und mitleidsvoll, weil du selbst der Barmherzigkeit und des Mitleides benötigen kannst. Mit kurzen Worten: Versetze dich stets in die Lage deines Mitmenschen, betrachte seine Interessen als die deinen, so wirst du stets nachsichtsvoll über ihn urteilen und stets freundlich und liebevoll gegen ihn sein. Von diesem Standpunkte aus sind alle Stellen in Bibel und Talmud zu betrachten, welche die "sozialistische Lehre" verkünden.

Beim Jubeljahr, da der Bodenbesitz dem alten Eigentümer zurückgegeben werden mußte, da die Sklaven der Freiheit teilhaftig wurden, wird ganz mit Recht als Grund dieser Verordnungen angegeben: "denn Mir gehört das Land" (Leviticus Kap. 25, V. 23), denn gleich nach der Besitzergreifung des heiligen Landes durch Israel wurde der Boden an das ganze Volk gleich verteilt. Es gab mithin keine Reichen und keine Armen in Israel. Mit der Zeit mußte sich freilich notwendigerweise eine Ungleichheit im Besitze herausgestalten, welche aber durch die weitestgehenden Gesetze in die möglichste Ferne hinausgeschoben werden sollte. Ist aber einmal eine Ungleichheit im Besitze eingetreten, so mußte der Besitzer die Worte: "denn Mir gehört das Land" stets vor Augen haben; er mußte bedenken, daß der Boden bleibt, während dessen Eigentümer wechseln, daß die Natur nicht darum dem Einen ihre Gaben spendet, um sie dem Andern zu entziehen; das Land gehöre Gott, und vor Gott haben alle gleiche Rechte. Darum soll der Nachwuchs in den Brachjahren dem Armen; die Ecken des Feldes, die Nachlese, und die bei der Ernte herabgefallenen Ähren und Garben dem Dürftigen gehören.

Die Worte wieder: "denn sie sind Meine Knechte" als Motivierung zu dem Gesetze der Freilassung aller Knechte im Jubeljahr, lehren das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Als Kanaan von Israel erobert wurde, gab es in diesem Volke keine Herren und keine Sklaven; es herrschte unter ihm eine vollkommene Gleichheit. Notwendigerweise mußte auch hier mit der Zeit eine Ungleichheit eintreten, aber der Sklavenbesitzer mußte stets der Worte: denn sie sind Meine Knechte, eingedenk sein und erkennen, daß der Mensch nicht das Recht hat den Menschen als sein Eigentum zu betrachten und in Willkür zu behandeln, daß der Knecht ebenso mit einem freien Willen ausgestattet ist, wie der Herr und folglich ebenso das Selbstbestimmungsrecht hat wie dieser. Darum sollst du deinem Knecht wie deinen Bruder behandeln; nicht zu strenge mit ihm sein, nicht zu schwere Lasten auf ihn bürden, ihn nicht körperlich verletzen und ihn betrachten wie deinesgleichen.

In diesem Sinne ist auch der Sozialismus, welcher sich beim Manna zeigt, wo Jeder ein gleiches Maß von der göttlichen Speise zu seinem täglichen Bedarf hatte, aufzufassen. Das Manna war ein Gottesbrot, das nicht durch Arbeit, Fleiß oder Fähigkeit erworben werden mußte. Das Volk war ein Gottesvolk, in welchem ein jeder vor seinem göttlichen Führer gleichberechtigt war und demzufolge auch ein gleiches Recht auf den Besitz hatte (Exodus 17, 18). Die vollkommene Gleichheit vor Gott bekundet sich auch in dem halben Schekel, den jeder Einzelne in Israel zum Heiligtum beisteuern mußte, wo es ausdrücklich heißt: Der Reiche soll nicht mehr, der Arme nicht weniger geben (daselbst 30, 15).

Das Schuldnererlaßgesetz im "Erlaßjahre" gebietet Schonung mit dem Armen, der nicht zu bezahlen hat (Deuteron. 15, 2). Die Nachsicht und das Mitleid aber hört auf, wo es der Schuldner auf Betrug abgesehen hat, oder wo das Wohl der Gesamtheit Strenge erheischt, und da tritt auch das Gesetz zurück und das "Prusbul" kommt in Wirksamkeit (Gittin 36 a). Sozialistisch ist auch das Gebot: "Wenn du in den Weingarten deines Nächsten kommst, so darfst du Trauben genießen, so viel du zur Sättigung bedarfst, aber in dein Gefäß darfst du nichts geben."

"Wenn du in die Saat deines Nächsten kommst, so darfst du mit der Hand Ähren abrupfen, aber die Sichel über das Getreide zu schwingen, ist dir nicht gestattet" (Deuteron. Kap. 23, V. 25, 26). Der Besitzlose hat das Recht, sich der Gaben der Natur zu erfreuen, selbst wo es auf Kosten des Besitzenden geschieht, nur darf er keine Absicht haben, Schaden zuzufügen.

Aus Mitleid wird auch geboten, daß du deinen verarmten Bruder so unterstützen sollst, damit er genug zu leben habe (Leviticus 25,35). Der Talmud verlangt sogar: Man ist verpflichtet dem Verarmten denselben Luxus zu bieten, den er sich einst in seinem Reichtume zu gönnen pflegte. Hillel verschaffte sogar einem "Herabgekommenen" ein Pferd zum Ausreiten und einen Diener, damit er vor ihm einherlaufe und als er einst keinen Diener fand, lief er selbst vor ihm einher (Kethubot 67).

In Aboth (5, 10) heißt es: "Wer da spricht: nimm dir von dem Meinigen und behalte auch das Deinige, der ist wahrhaft fromm. Wer da spricht: ich will, daß mir das Meinige und dir das Deinige bleibe, der verfährt wie die Sodomiter", denn er will den Besitz streng gesondert wissen und gestattet dem Einen keinen Anteil am Eigentum des Andern.

Die "sozialistische Lehre" spricht sich auch in dem Gebote: "Und Arme sollen deine Hausgenossen sein" aus. Ferner in dem Satze: "Gehöre lieber der arbeitenden, als der herrschenden Klasse an" (Aboth 2, 2). "Selbst die Wissenschaft erlangt erst dann den vollen Wert, wenn sie mit nutzbringender, materieller Arbeit verbunden wird" (ebenda).
 

Am 15. des Monats Aw, so erzählt der Talmud (Taanis 31a), war alljährlich ein Freudentag in Israel, in welchem es in den Weinbergen ein Volksfest gab, zu dem die Töchter Zions in geliehenen Kleidern erscheinen mußten, damit die Unbemittelten und Armen, welche selbst keine Festkleider besaßen, nicht beschämt werden. Selbst die Töchter des Königs und die des Hohenpriesters mußten voneinander die Kleider borgen, damit an diesem Tage vollkommene Gleichheit herrsche.

Das Gesamtergebnis dieser Ausführung ist, daß der Sozialismus in der Praxis eine Utopie bleibt, daß die Gleichheit in allen ihren Konsequenzen auszuführen eine Unmöglichkeit ist, weil es einerseits ein Fluch für das Menschengeschlecht wäre, alle Glieder desselben auf gleichem Niveau der Niedrigkeit zu erhalten, während es andererseits ein unerreichbares Ideal bleibt, die Gesellschaft auf eine gleiche geistige, moralische und materielle Höhe zu bringen. Die Gleichheit im Besitze wird nicht einmal von einer messianischen Zeit verheißen. Die Zeit der Erlösung, sagt der Talmud, wird sich in nichts von der Jetztzeit unterscheiden, nur daß dann jeder politische Druck aufhören wird. Von einer Ausgleichung der Gesellschaftsunterschiede ist auch hier nicht die Rede.

Es bleibt daher nichts Anderes übrig, als die sozialistische Idee vom Standpunkte der Humanität, der Teilnahme, des Mitleides und der allgemeinen Menschenliebe aus, mit dem größten Eifer zu pflegen; als das unermüdliche, rastlose Streben nach dem höchsten Ideal, die ganze Menschheit auf eine gleiche geistige und sittliche Höhe zu bringen; das moralische Bewußtsein durch allgemeine Bildung im Volke zu heben; seine Erkenntnis, seine Selbstachtung zu fördern; seinen sittlichen Ernst großzuziehen durch gleiche Anteilnahme an den Ergebnissen der Wissenschaft, durch die Freiheit der Person, durch das Selbstbestimmungsrecht und durch seine vollkommene Mündigkeit. Das ist das hehre, lichtumflossene Ziel, in welchem die allgemeine Wohlfahrt und das Glück Aller zu erstreben und zu finden wäre. Das zu erreichen, ist die heiße Sehnsucht, das glühende Verlangen des großen Lehrers Moses, indem er wünscht: "O, gäbe Gott, daß das ganze Volk aus Propheten bestünde, daß der Geist des Ewigen auf ihnen ruhen möchte" (Numeri 11, 29).

Alle, alle mögen sie Anteil haben an dem Geist Gottes. Da herrsche vollkommene Gleichheit; Gleichheit im Anteil an der Bildung, Gleichheit im Anteil an der Erkenntnis, Gleichheit im Anteil an der Wissenschaft, an ihren Errungenschaften, an der Aufklärung, an dem Fortschritt, an der Freiheit. Das verlangen die Bibel und der Talmud, das fordert die Nächstenliebe, das erhofft der Menschenfreund und das sei auch das stete Streben eines jeden Einzelnen in der Gesamtheit.

2 Kommentare:

  1. Sehr sehr guter Text. Sehr ausgewogen, sachlich, denn selbst die Bibelstellen sind aboslut vernünftig, außer daß sie auch von Gott sind!

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