Von Rabbiner Dr. RAPHAEL BREUER sel. A.
Es dämmert... die Weihnachtsglocken tönen durch die christliche Welt. Es sind die einzigen Signale des christlichen Kultus, die auch in jüdische Häuser dringen. Denn in der Nitlnacht ruht das Studium des Gesetzes.
Für ein paar Abendstunden vergegenwärtigt sich das jüdische Volk, wie arm es ohne Thora wäre. Wie bettelarm und hilflos, wenn jene Anschauung im Rechte wäre, die im Christentum die Überwindung der jüdischen Gesetzlehre sieht und nicht die fragmentarische Weltansicht einer tausend-jährigen Übergangszeit, die auf Umwegen - langsam aber sicher - an den Fuß des Moriaberges führt.
Darum - wenn die Weihnachtsglocken tönen - horcht Jissroél nachdenklich auf - legt sein Kostbarstes bei Seite und wartet, bis sie ausgeklungen. Gäbe es Gott, daß sie nicht umsonst über die Erde klingen, und mögen sie mit mächtigem Schall das Gewissen der Völker wecken!
"Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen gesättigt werden", so heißt es in der Bergpredigt. Das Recht und die Liebe - es ist endlich Zeit, daß aus den toten Worten, lebendige Taten werden.
Was nützt es, wenn für nichtigen Zweck die nationale Ehre geschützt, die nationale Wehrkraft vermehrt, der nationale Wohlstand gefördert wird - wenn Millionen ungesättigt nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, wenn das Alphabet jeder Menschengesittung, das Recht und die Liebe, noch immer gelehrt - vergeblich gelehrt werden muß.
Hat man denn schon vergessen, daß der feierliche Schall der Weihnachtsglocken dem Geburtstag eines jüdischen Kindes gilt! - In der Nitlnacht ruht das Studium der Thora. Ausnahmsweise, nach althergebrachtem Brauch.
Dieser Brauch ist ein sinniger Brauch. Wenn sich die Enthaltsamkeit vom Lernen nur auf die Stunden einer - dieser erstreckt. Jedoch dieser Brauch verliert jeden vernünftigen Grund, wenn die Enthaltsamkeit vom Lernen, bereits in der vorhergehenden Nacht geübt, in der folgenden Nacht fortgesetzt werden sollte - wenn auch in den übrigen Nächten des Jahres das Studium des Gesetzes ruht.
Zu den Perlen, um die uns die Vernachlässigung der Thora bringt, zählt auch die sinnige Muße der Nitlnacht. Darum klingen die Weihnachtsglocken vorwurfsvoll in so manches jüdisches Haus. O, daß sie auch uns zur Besinnung brächten!
Aus: „Unter seinem Banner" (1908), S.186-187
Quelle
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